Die Schattenwandlerin
- Jennifer Willert
- 26. Juni
- 4 Min. Lesezeit

Eine Kurzgeschichte in mehreren Teilen
von Jennifer Willert
Teil 1
Grelle Blitze zuckten durch ihren Kopf, als sie langsam von der Traumwelt in die Wirklichkeit zurückkehrte. Aber wo war sie? Ihr Körper fühlte sich an, als hätte sie einen zehnstündigen Marathonlauf hinter sich. Sie lag auf der Seite, ihre Arme und Beine schlaff und nutzlos wie bei einer Marionette neben ihr. Unfähig sich zu bewegen, spürte sie kalten und harten Boden unter sich. Irgendetwas Spitzes hatte sich schmerzhaft in ihre Rippen gebohrt. Ihr Kopf dröhnte und war zu keinem klaren Gedanken fähig. Angestrengt versuchte sie ihre Augen zu öffnen. Die Wimpern fühlten sich verklebt an und es kostete sie einige Kraft, um sie wenigstens einen spaltbreit zu öffnen. Mit tauben Fingern, die den Anschein erweckten, dass sie nicht ihre eigenen waren wischte sie sich mit unbeholfenen Bewegungen über das Gesicht. Völlige Dunkelheit umfing sie, die auch nach ein paarmal Blinzeln nicht verschwand. Mit aller Kraft zog sie sich in eine sitzende Position und ignorierte das aufkommende Schwindelgefühl und den stark ziehenden Schmerz, der ihr bei jeder Bewegung durch den Rücken zog.
Ängstlich drehte sie ihren Kopf in alle Richtungen. Nichts als Dunkelheit. Sie hielt inne und lauschte angestrengt in die Finsternis. Nichts! Sie versuchte in den Bauch zu atmen, ein paar tiefe Atemzüge, die die aufsteigende Panik in ihr verhindern sollten.
Irgendjemand hatte ihr vor Kurzem zu Atemübungen geraten.
„Atmen sie durch die Nase ein und zählen sie langsam bis 7... sehr gut... und jetzt über die Lippenbremse wieder aus... zählen sie dabei bis 8... das machen sie prima... spüren sie den Atem nach...!“, hallte ein männliche Stimme in ihrem Kopf.
Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern, wer der Mann mit der tiefen und so beruhigenden Bassstimme war. Aber sie sah nur ein verschwommenes Gesicht vor sich. Als sie sich darauf zu konzentrieren versuchte, verschwand es wie ein flüchtiger Nebel und Schwärze tat sich stattdessen wieder auf.
Ein modriger und abgestandener Geruch trat in ihre Nase, der eine Gänsehaut auf ihren Armen und Beinen bewirkte. „Wo war sie?“
Sie tastete mit ihren Fingern unbeholfen den Boden unter sich ab. Es bestand kein Zweifel, sie lag auf einem kühlen, unebenen Steinboden.
„Hallo!“, rief sie in die Dunkelheit. „Hallo! Ist hier Jemand?“
Ihre Stimme hallte ganz leicht von den Wänden zu ihr zurück und sie begriff, dass sie sich in einer Art Höhle, Grotte oder Halle befinden musste. Angestrengt versuchte sie sich noch einmal zu erinnern, wie sie dorthin gelangt war. Aber die Vergangenheit schien wie ausgelöscht, ähnlich einer Computer-Festplatte, die formatiert wurde. Sie konnte sich weder an ihren Namen erinnern, noch wusste sie wie alt sie war.
„Hatte sie Kinder, war sie verheiratet, ging sie einer geregelten Arbeit nach?“ Sie wusste es nicht mehr.
Kurz kam ihr die Idee, dass sie durch ein Erdbeben oder eine Schneelawine verschüttet worden war und sie dabei ihr Gedächtnis verloren hatte. Aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass dies nicht stimmte. Aber konnte sie sich darauf verlassen?
Unter Stöhnen kam sie auf ihre Knie und krabbelte, weil sie immer noch nicht die Kraft fand aufzustehen, auf allen Vieren vorwärts. Dabei tastete sie sich Meter für Meter nach vorne. Angst stieg in ihr auf. Angst vor dem Unbekannten. Furcht, dass irgendetwas, irgendjemand in einer Ecke lauerte, nur darauf wartend, sich auf sie zu stürzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit spürten ihre Hände und die Finger eine senkrechte Felswand vor sich. Mit größter Kraftanstrengung zog sie sich an dem unebenen Stein nach oben. Ein starker Schwindel erfasste sie erneut und keuchend lehnte sie sich für einen Moment an den kühlen Felsen. Kalter Schweiß brach ihr aus allen Poren hervor und für einen Augenblick vermutete sie erneut das Bewusstsein zu verlieren.
Sie fröstelte und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nichts trug, als ein kurzes Kleid mit schmalen Trägern. Der Stoff fühlte sich so dünn an, als könnte er schon beim kleinsten Windstoß reißen.
Als sie sich wieder gefasst hatte beschloss sie den dunklen Ort, in dem sie erwacht war zu erkunden. Sie schritt, sich langsam vorwärts tastend, an der Wand entlang. Um den Anfang wiederzufinden, legte sie drei kleine Steine in Höhe ihrer Schulter auf einen Felsvorsprung ab. Sie versuchte sich zu konzentrieren und zählte die Schritte bis zum Ausgangspunkt. Als ihre zitternden Finger erneut die Wegmarkierung ertasteten, war sie bei knapp 200 Schritten angekommen. Die Höhle war nahezu rund, zumindest kam ihr das bei ihrer ersten Erkundung so vor. Erschöpft ließ sich sich zu Boden gleiten, stützte ihre Arme auf den angezogenen Beinen ab und vergrub den Kopf in ihren Händen.
„Sie saß in der Falle! Sie wusste weder WER noch WO sie war! Sie war in einer großen Höhle gefangen, ein steinernes Grab, aus dem es kein Entkommen gab.“
Eine tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überkam sie. Es stieg vom kalten Steinboden auf, fraß sich durch ihre Fußsohlen, kletterte an den Beinen entlang zu ihrem Oberkörper. Wie eine eiserne Faust umschloss es ihr Herz und drückte auf ihre Lungenflügel. Sie konnte nicht mehr atmen, drohte zu ersticken. Röchelnd und nach Luft schnappend lehnte sie ihren Oberkörper an die kühle Felswand. Wie ein Blitz zuckte eine Erkenntnis durch ihr Bewusstsein. Sie kannte dieses Gefühl, es erinnerte sie an irgendetwas. „Was war es?“
Ein Bild formte sich vor ihrem geistigen Auge. Sie sah einen Mann, Anfang 40... auf seinen Schultern saß ein kleiner Junge... BEIDE LÄCHELTEN.
Für einen Bruchteil einer Sekunde verschwand der Schmerz, die Hoffnungslosigkeit und die Verzweiflung und sie spürte, wie sie zurücklächelte.
Genauso schnell, wie sie erschienen war, löste sich die Vision vor ihr in Luft auf.
„Nein!“, schrie sie und griff mit ihrer Hand vor sich ins Leere, als könnte sie das Bild, den Augenblick festhalten. Aber da war nur noch Finsternis. Der Schmerz kam mit doppelter Intensität zurück, durchbohrte ihr Herz und sie hatte das Gefühl, dass ihr gesamter Oberkörper in Flammen stand. Sie schrie auf, fiel auf die Seite und blieb, sich auf dem Boden windend, zitternd liegen. Als sie dachte, dass die Flammen alles zerstört hatten und sie jetzt sterben müsste, kamen endlich die Tränen. Sie weinte und es fühlte sich an, als hätte sie es eine Ewigkeit nicht mehr getan. Irgendetwas in ihr zerbrach und sie konnte den Tränen freien Lauf lassen. Sie löschten die Flammen in ihr und zurück blieb nur noch Asche.
Fortsetzung folgt...





Echt super spannend! Schreib weiter so!